„Tell“ in der Schweiz
Zur Premiere von Gioacchino Rossinis „Guillaume Tell“ im Theater St. Gallen 5. 5. 2024
Die eigenen Rezensionen von Rossinis grosser und letzter Oper im Archiv bringen es wieder vor Augen: Der Mythos der Urschweiz scheint hier zulande eine Verlegenheit zu sein, die auf Kosten der französisch-italienischen Rossini-Oper „Guillaume Tell“ ausgelebt wird. Die schönste Erinnerung gilt der Aufführung unter freiem Himmel im Amphitheater von Avenches im Jahr der Expo.02, auch wenn sie im Regen unterzugehen drohte. Vor dem Finale floh das Orchester zum Schutz der Instrumente in die Garderobe, Nello Santi aber wollte nicht aufgeben, liess ein Keyboard auf die Bühne bringen und führte den Chor durchs hymnische Allegro maestoso zum grandiosen Schlussakkord – Soviel Heroismus scheint sonst nicht zum Umgang mit der fantastischen Partitur zu gehören. Im Opernhaus setzte Daniel Schmid 1987 das Stück in den Rahmen der frühen Fotografie mit süss kolorierten Bildchen und dem Alpenvolk im Orchestergraben. Das war immerhin gut gemeint als Reverenz an den Komponisten und seine Epoche. 2010 machte Adrian Marthaler das Werk, in dem Herzblut der Welt strömt, zur Lachveranstaltung mit EU-Truppen, die über den Schweizer Käse herfallen und die Toblerone mit dem Beil zerhacken. Es gab den prahlerischen Volkshelden, der sein eigenes Denkmal bewunderte und den gelangweilten EU-Statthalter so reizte, dass er ihn zwang, mit der helvetischen Gütesiegel-Armbrust seine Fähigkeiten zu beweisen.
In St. Gallen hält jetzt ein Statist einen zwei Meter langen Bogen ohne Sehne, Tell spannt seine Arme, von einem Pfeil keine Spur. Als Arnold brilliert der jungen Tenor Jonah Hoskins mit dem Strahl eines hohen C‘s, wie man es noch selten zu hören bekam. Aber zu seinem Ruf zu den Waffen, die Tell und sein Vater planvoll gehortet haben, schwenken die Männer dürre Stöckchen…
Theater St. Gallen
Gioacchino Rossini „Guillaume Tell“
Besprechung exklusiv
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AUS DEM ARCHIV
Rossinis Oper basiert zwar auf Schillers Schauspiel, setzt die Gewichte aber anders mit Tell als dem Anführer auf dem Rütli, und mit Arnold und Mathilde als durch die politischen Verhältnisse getrenntes Paar im Zentrum.
Mehr dazu: LB 8. Juli 2002 „Warum nicht Schiller fragen? – Tell auf und neben der Expo.02“ PDF und die Kolumne „Der Schütze Tell und die Schweizer Qualität“ (LB 1. Dezember 2007) PDF